Erst aus Geschichte(n) werden Daten sinnvoll

Christopher Schlembach & Michaela Pfadenhauer

Medizinische und therapeutische Informationen, die als Entscheidungsgrundlage der Planung einer Ergotherapie oder einer Physiotherapie dienen, lassen sich auf zwei Weisen betrachten: In der ersten Perspektive sind es allgemeine Elemente einer Datenstruktur, die man möglichst übersichtlich aggregieren und visualisieren kann. Die Daten repräsentieren abstrakte Fälle, in der Diagnosen, Indikationen, Interventionen und vieles mehr zusammengefasst sind. In der zweiten Perspektive sind es die individuellen Krankengeschichten von Patient*innen, die von den Therapeut*innen nachvollzogen und als Elemente des Sinnzusammenhangs einer Erzählung verstanden werden. Es sind Geschichten, in denen den Patient*innen etwas zugestoßen ist, dessen Folgen sie gemeinsam mit Ärzt*innen und Therapeut*innen bewältigen wollen. Die Therapeut*innen müssen dabei nicht um jedes Detail wissen, sondern sie brauchen die Krankengeschichte nur soweit zu kennen, um zu verstehen, weshalb der*die Patient*in da ist und wie es wahrscheinlich weitergehen wird.

Aus den Informationen in den Originaldokumenten der Krankenakte, die im Krankenhausinformationssystem hinterlegt sind, lässt sich beispielsweise erfahren, dass ein Fingerknochen gebrochen und das Gewebe angeschwollen ist. Zugleich entsteht um die Information herum das Bild eines Menschen in seiner Lebens- und Arbeitssituation. Immerhin weiß der*die Therapeut*in jetzt: Die Handverletzung stellt eine Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit dar, wenn es sich um eine Büroangestellte handelt, die viel schreiben muss. Er*sie kann sich vorstellen, wie Muskel und Gelenke belastet werden, dass fein-motorische Fähigkeiten besonders wichtig sind und es weniger um das Heben schwerer Gegenstände geht. Auf dieser Grundlage lässt sich eine Therapie entwickeln, die im Behandlungsfortgang mit Wissen darüber angereichert wird, welche Bedeutung die Beeinträchtigung im einzelnen für Arbeitsprozesse und darüber hinaus hat.

In der Aufbereitung von Gesundheitsdaten mittels Algorithmen und probabilistischen Lernmodellen (machine learning) kommt so etwas wie Bedeutung oder Sinn nicht vor. Sinn entsteht, wenn Vorgänge und Ereignisse der äußeren Welt mit geschichtlichem Leben in Beziehung gesetzt werden. Der Sinnzusammenhang bildet sich in einer Zeit des subjektiven Erlebens und Verstehens, die von der physikalischen oder biologischen Zeit unabhängig ist. Erst mit dem Sinn einer Handlung, mit dem auch Absicht und Zweck verbunden ist, stellt sich ein Problem der Relevanz, also die Frage, worauf es ankommt und was zum Gelingen einer Handlung beiträgt. Anders Ausgedrückt: Das Zusammenspiel der „Datenpunkte“ mit einem biographischen Geschehen bestimmt, was als relevante Information aus einem Krankenhausinformationssystem herausgelesen wird.

Wenn wir danach fragen, welche Informationen aus einem Krankenhausinformationssystem für eine Ergotherapeut*in oder eine Physiotherapeut*in relevant sind, geht es um ganz bestimmte Elemente einer individuellen Lebensgeschichte. Für eine Physiotherapeut*in könnte beispielsweise wichtig sein, welche Verletzung diagnostiziert wurde, wie die Verletzung operativ behandelt wurde, auf welche Weise und schließlich wie lange der verletzte Körperteil ruhiggestellt wurde. Mit dem Verletzungs- und Behandlungsgeschehen ist die Geschichte noch recht allgemein und abstrakt. Sie benötigt eine*n Träger*in der Handlung. Das Geschlecht, das Alter, der Wohnort und der Beruf könnten ihn oder sie näher bestimmen. An diesem Punkt sind der Unfallhergang und Behandlungsverlauf noch sehr grob skizziert und oft wollen sich die Therapeut*innen ein differenzierteres Bild des Zustands einer Patient*in machen. Dazu kann auf einzelne Befunde zurückgegriffen werden, insbesondere auf die Befunde von bildgebenden Verfahren (Magnetresonanz, Computertomographie). Manchmal werden auch die Bilder selbst herangezogen, was den Nachvollzug der behandlungsrelevanten Informationen über Beschreibungen abkürzt.

Durch die Verbindung von Datenpunkten zu einer Erzählung durch die Therapeut*in entsteht eine Version der Geschichte. Eine andere entsteht auf Basis von Erinnerungen der Patient*in. Doch Patient*innen können sich nicht immer genau daran erinnern, was passiert ist und welche Behandlungsschritte gemacht wurden. Vielleicht ist der Unfallhergang noch in lebendiger Erinnerung; bei Details der angewandten Operationsmethode oder gar Hinweisen auf Komplikationen, wird es schon schwieriger.

Doch wenn die Patient*innen beim ersten Termin selbst erzählen, was passierte, welche Hoffnungen und Befürchtungen sie bezüglich der Rehabilitation haben, können die objektiven Informationen und die subjektive Deutungen miteinander verbunden werden. Das ist wichtig, damit für beide, die Therapeut*in und die Patient*in, eine gemeinsame Vorstellung davon entsteht, was passiert ist und wie es nun weitergehen soll. Darüber hinaus entsteht für beide die rationale, d.h. sinn-volle Handlungsstruktur eines therapeutischen Prozesses im Verstande eines zielgerichteten Geschehens, an dessen Ende die begründete Hoffnung auf Wiederherstellung oder Stabilisierung von Fähigkeiten und Fertigkeiten von Patient*innen steht.